Der Liebesbrief
von © Melanie Rinschede
Seit zwei Jahren war ich nun Witwe, nachdem ich mit meinem Mann Egon 55 Jahre verheiratet gewesen war.
Es war eine wunderschöne, erlebnisreiche Zeit mit ihm. Unsere Beziehung lebte von Vertrauen, Loyalität und Verständnis. Als er mich mit 21 ehelichte, versprach er, mir niemals das Herz zu brechen. Es war ein erwärmendes Gefühl, dass von einem Mann zu hören, den man mochte und mit dem man sein Leben verbringen würde. Doch insgeheim wusste ich, dass er mein Herz gar nicht brechen könnte, da es schon gebrochen war.
Ich zweifelte nie daran, dass Egon ein anständiger Kerl war, der mich aufrichtig liebte. Aber ich zweifelte an meinen Gefühlen zu ihm.
Denn bevor ich Egon kennen lernte, wohnte ich mit meinen Eltern in einem kleinen Dorf mit ca. 500 Einwohnern.
Ich war 17 und Heinrich, ein Junge aus demselben Dorf, war 19. Heimlich waren wir ein Liebespaar. Er weckte Gefühle in mir, die ich danach nie wieder erlebte. Jede Minute die wir Zeit hatten, schlichen wir uns davon und trafen uns in einem Wald in der Nähe des Dorfes. Oft legten wir uns auf eine Decke, die wir in einer Lichtung ausbreiteten und beobachten die Vögel am Himmel, welche ihre Runden flogen. Dabei unterhielten wir uns über alle wichtigen und unwichtigen Themen. Manchmal malten wir uns aus, wie wir heiraten würden und wie unsere Zukunft aussehen würde. Für uns stand fest, dass wir zusammen gehören und wir uns niemals trennen würden.
Bis meine Eltern eines Tages beschlossen, in eine große Stadt zu ziehen, 400 km entfernt von unserer Heimat und von Heinrich. Da ich den wahren Grund verschweigen musste, versuchte ich meinen Eltern zu erklären, dass meine jüngeren Geschwister auf dem Land viel behüteter groß werden könnten und sie mehr Platz zum Spielen hätten. Doch der Entschluss stand fest und ich musste mich fügen. Heinrich und mein tränenreicher Abschied fand in der Waldlichtung statt. Wir versprachen uns jeden Tag zu schreiben und sobald wir könnten, zu heiraten und zusammen zu leben.
Doch als ich ihm schrieb, kam keine Antwort. Ich war tief enttäuscht, traurig und dachte, er hätte eine Andere kennen gelernt, mit der er jetzt unsere Träume verwirklicht. Einige Zeit später lernte ich dann Egon kennen. Es waren nicht dieselben Gefühle, wie die bei Heinrich, aber ich dachte mir, dass er mich nicht verletzen würde. Wir heiraten, bekamen 3 Kinder und bauten ein großes Haus, in dem wir bis zu seiner Krankheit glücklich lebten.
Doch war es Liebe?
Denn hin und wieder dachte ich schon an Heinrich und wie unser Leben gemeinsam ausgesehen hätte.
Nachdem Egon starb, kamen diese Gedanken immer häufiger. Wie sieht er heute aus? Wo würden wir wohnen? Wie würden unsere Kinder aussehen? Hätte unsere Liebe bestand gehabt? Alles Fragen, die mir Tag für Tag durch den Kopf gingen und die schmerzliche Erkenntnis, nicht einmal ein Foto von ihm zu besitzen.
Doch dann, 59 Jahre nachdem ich Heinrich zuletzt sah, bekam ich einen Brief mit seinem Absender. Ich konnte meinen Augen kaum glauben, als ich eines Mittags den Briefkasten leerte und diese Überraschung in den Händen hielt. Hatte er all die Jahre auch an mich denken müssen? Gab es Gründe, aus denen er mir nicht schreiben konnte? Vielleicht hatte ich ihm unrecht getan mit meiner Vermutung, er würde mich nicht mehr lieben.
Meine Hände zitterten vor Aufregung, mein Herz raste und ein Schwindelgefühl überkam mich. Ich ließ mich auf mein Sofa fallen und öffnete langsam den Umschlag, holte den Zettel heraus und fing an die Zeilen zu lesen:
Liebste Irmgard,
Dich gehen zu lassen, war mein größter Fehler.
Ich habe mein Leben jetzt eingerichtet, dass
sofort Platz für dich wäre. Wir bräuchten unsere Träume
nicht mehr nur träumen, sondern könnten sie leben.
Wenn du möchtest, komm zu mir zurück.
In Liebe, dein Heinrich
Wie konnte er davon ausgehen, dass ich nach 59 Jahren alleine und nicht in einer Ehe lebte?
Etwas entrüstet aber überglücklich rief ich meine Tochter an und bat sie, mit mir in mein Heimatdorf zu fahren. Sie wusste nicht weshalb, aber wir fuhren sofort los. Als wir das Ortseingangsschild sahen, kamen all die alten Erinnerungen deutlicher hoch als je zuvor. Gleich würde ich ihn wieder sehen, könnte ihm alle Fragen stellen, die ich an ihn hatte und wir wären zusammen, wie wir es uns immer gewünscht hatten.
Ich navigierte meine Tochter sofort zu seinem Elternhaus, welches er damals, als ältester Sohn, wahrscheinlich übernahm. Meiner Tochter versprach ich, es ihr später zu erzählen, weshalb wir den weiten Weg gefahren waren, als wir vor seiner Haustür standen. Erst wollte ich ihn in meine Arme schließen.
Ich stieg aus dem Auto lief zu dem Haus und auf der Türklingel stand tatsächlich sein Nachname. Meine Hände wurden eisig kalt und meine Knie zitterten, dass ich kaum stehen konnte. Langsam bewegte ich meinen Daumen in Richtung Schelle und drücke drauf. Aus dem Haus hörte ich ein leises 'Ding Dang Dong'. Kurz darauf öffnete mir ein Mann um die 50 die Tür. Er war Heinrich wie aus dem Gesicht geschnitten und mir war sofort klar, dass es sich nur um seinen Sohn handeln müsste.
Ich klammerte meine Finger um den Brief und sagte mit vorsichtiger Stimme:
"Mein Name ist Irmgard, ich möchte zu Heinrich. Wohnt er hier, oder könnten Sie mir seine neue Adresse geben?"
Verdutzt schaute der Mann mich an und antwortete:
"Heinrich, mein Vater? Der ist schon seit einem Jahr tot. Tut mir leid."
Dann wendete er sich ab und schloss die Tür hinter sich.
Heinrich, seit einem Jahr tot? Aber wie konnte er mir den Brief schreiben?
Auf dem Weg zum Auto öffnete ich den Brief erneut und bemerkte, vor lauter Aufregung hatte ich überlesen, dass der Brief am 15.08.1949 geschrieben wurde. Er hatte mir sofort eine Antwort zurückgeschickt, doch die Post überbrachte ihn mir erst 59 Jahre später.
Ich lehnte mich an die Autotür von dem Wagen meiner Tochter und holte tief Luft. In diesem Moment wurde mir klar, dass Heinrich meine große Liebe war und immer sein wird. Mit Egon hatte ich eine wundervolle Freundschaft geführt, doch mein Herz gehörte, seit dem Tag an dem wir uns das erste Mal sahen, Heinrich.
Bedrückt setzte ich mich zu meiner Tochter ins Auto und wir fuhren zurück in mein altes Leben, ohne Heinrich. Ich erwähnte ihn weiterhin nicht. Meine Kinder wollte ich im Glauben lassen, dass ihr Vater der einzige Mann in meinem Leben war. Doch ich war voller Schmerz, nie die Chance bekommen zu haben, mein Leben mit Heinrich zu teilen.
Ich war voller Wut, dass die Post den wichtigsten Brief meines Lebens einfach verschlampt hatte.
Und ich war voller Zufriedenheit, dass ich Heinrich kennen gelernt und mit ihm ein glückliches Jahr verbringen durfte.