Neubeginn

von © Melanie Rinschede

Ein lauter Knall ertönt, man hört Leute um ihr Leben schreien und ein brennender Mann kommt aus einem Haus gestürzt. Er rennt und rennt und … „Schnitt, die Szene ist im Kasten! Danke Leute, dass war’s für heute!“, sagt ein kleiner bärtiger Mann zu seiner Crew.

Ryan geht in seine Garderobe und zieht seine feuerfeste Stuntausrüstung aus. Er liebt diesen Kick, den er nur spüren kann, wenn er sich in genau diese Abenteuer stürzt. Wenn er eine menschliche Fackel ist, ein Hochhaus hinunter springt, einen gefährlichen Kampf inszeniert oder mit hoher Geschwindigkeit einen Unfall provoziert.

Er ist zuhause angekommen. Beim öffnen der Tür springt ihm sein kleiner Sohn in die Arme, „Daddy Daddy, was hast du heute gemacht? Tat weh?“ Seine Frau kommt dazu, gibt ihm einen zärtlichen Kuss und wirft ihm einen bösen Blick zu „Du weißt, dass ich diesen Job nicht mag. Er wird dich noch umbringen!“ Ryan versteht ihre Ängste. Er weiß auch, dass sie sich noch mehr sorgt, wenn er zu den Shows geht, in denen er und sein Rivale sich mit den gefährlichsten Stunts überbieten wollen. Aber Ryan ist der Publikumliebling und zu dem Star mutiert. Das bringt ihm nicht nur Ruhm, Erfolg und Bestätigung sondern der Familie auch sehr viel Geld ein.

Zögernd beginnt er vom neusten Projekt zu erzählen, „Jen, also ich habe heute mit Brian gesprochen und … naja … er hat eine super Idee für die nächste Show …“ „Das kann nicht gut werden, wenn du schon so beginnst, los, einfach raus mit der Wahrheit! Erzähl schon, was sollst du nun schon wieder für eine bescheuerte …“ „Jen, es wäre das letzte Mal. Ich hab’s dir versprochen!“ „Das hast du schon seit Jahren und bist immer noch in diesem Geschäft. Hast sogar noch deine eigene Show bekommen.“ „Diesmal beende ich es wirklich. Aber ich muss dem Publikum noch eine großartige Abschiedssendung bieten.“ „Du musst Ryan? Du willst!“ Jen dreht sich um und verlässt die Küche. Ryan lauscht noch ihren wütenden Schritten, als sie die Treppe nach oben läuft. Sie hat so was von Recht. Er wollte schon seit Jahren aufhören, aber dieser Drang nach dem Adrenalin, welches ihm bei diesen Herausforderungen durch die Adern schießt, ist zu groß. Nein! Es war zu groß.

Es ist schon spät und er betritt leise das Schlafzimmer, legt sich zu Jen, als diese noch wach liegend zu sprechen beginnt. „Was soll es denn für ein Stunt sein? Was genau wirst du in deiner Abschiedsshow zeigen?“ „Du kennst doch diese Schlucht, wenn man Richtung Süden die Stadt verlässt?“ Jen nickt und ihre Augen füllen sich mit Angst. „Also ich werde mit einem Mottorad über diese Schlucht fahren.“ „Es wird das letzte Mal sein? Keine weiteren Stuntman Jobs mehr und aus der Sendung bist du dann auch raus?“ „Ja, wir werden dann einen langen Urlaub machen und ich werde sehen, was ich beruflich weiter mache.“ Jen willigt ein. Diesmal scheint es ihm tatsächlich ernst zu sein. So endgültig haben sie zuvor nie über dieses Thema des Beendens gesprochen. Beide kuscheln sich aneinander als Jen noch etwas loswerden muss. „Ich werde diesmal nicht mitkommen!“ „Wie?“ „Na, zu der Show. Mir ist bei vielen deiner Auftritte schon fast das Herz stehen geblieben, aber diesmal ertrag ich es nicht dir zuzuschauen.“ „Ist okay.“ Ryan ist ein wenig enttäuscht, aber er hatte es immer seiner Frau selbst überlassen, sich seine halsbrecherischen Aktionen live anzuschauen.

Die nächsten Tage verbringt Ryan mit dem Training und der Promotion für die Sendung. Alle Karten, die einem die Chance bieten sich Ryans Todessprung, wie der Sender die Folge nannte, aus nächster Nähe anzuschauen, sind ausverkauft. Jeder seiner Fans freut sich auf diesen letzten Akt und sehnen sich den Tag herbei. Anders Jen. Sie wird von Tag zu Tag nervöser, hat schlimme Albträume und ein sehr ungutes Gefühl bei dieser Sache. Das hatte sie schon immer, aber nicht wie diesmal. Nicht so.

„Es fühlt sich schlechter an als sonst, das wird schief gehen!“ Ryan und Jen sitzen am Frühstückstisch. Heute wird Ryan seinen letzten großen Erfolg haben, alle werden ihn als den Helden ihrer Zeit in Erinnerung behalten. „Beruhige dich. Du weißt wie die Proben waren.“ „Ja, die Proben, aber jetzt wird es ernst. Diesmal machst du es wirklich.“ Ryan weiß nicht was er sagen soll. Er kann jetzt nicht mehr zurück, oder wie Jen sagen würde, er will nicht mehr zurück.

Der Abschied ist herzlich und bedrückend zugleich. Jen weint, sie wird zuhause auf ihn warten und hoffen, dass sie nicht vergebens wartet. Ryan verlässt das Haus. Brian und die restlichen Leute seines Teams warten schon in dem kleinen Van an der Straße. Ryan läuft zu ihnen und blickt zurück. Er hat ein so schönes Haus, einen so süßen Sohn und diese bezaubernde Frau, die all die Jahre zu ihm gehalten hat. Soll er …? Wie kann er zweifeln? Das hat er noch nie getan. Aber … nein, kein aber. Es ist die letzte Show und er wird sie durchstehen. Er hatte noch nie Angst und Angst ist auch nicht das richtige, wenn man in diesem Geschäft bestehen will. Er steigt ein und der Van rauscht davon.

Ein paar Stunden später ist es soweit. Auch Jen, die eigentlich nichts davon mitbekommen wollte, hat den Fernseher eingeschaltet. Nebenbei wäscht sie ab, das beruhigt sie. Das bildet sie sich zumindest ein. Und plötzlich tönt es aus dem TV Gerät „Es ist so weit! Ryan Perl wird jetzt seinen Todessprung absolvieren.“ Jen erschreckt, lässt fast den Teller fallen. Sie dreht sich nun doch zum Bildschirm und sieht wie Ryan Gas gibt. Er wird immer schneller und schneller, er fährt die Rampe hoch und fliegt. In Jen zieht sich alles zusammen. Ihr wird schlecht. Sie weiß, dass er der Beste ist. Und auf einmal schreit Jen. „Oh mein Gott! Er hat es tatsächlich geschafft!“ Aus dem Fernseher ertönen Jubelrufe. „Perl ist sicher gelandet. Er ist der Sieger des Tages und der Held der Welt.“
Jen kullern kleine Glückstränchen über ihre Wangen. Es ist vorbei, ein für alle mal. Nie wieder Angst um Ryan, nie wieder dieses zittern. Es schellt, die Nachbarin bringt Ryan und Jens Sohn zurück. Wenn Ryan nach Hause kommt, soll alles bereit sein zum feiern. Es wird eine Feier zu dritt. Eine ganz intime Feier nur für ihre kleine Familie.

Nun sind schon Stunden vergangen. Ryan müsste jeden Augenblick kommen. Und da hört sie ein Auto. Ja, dass hört sich nach dem Van an. Jen rennt voller Vorfreude los, öffnet die Tür und stürmt raus. Nur Brian steigt aus. „Wo ist Ryan? Ich hab alles mitverfolgt. Super Show. Ich will ihm gratulieren!“ Aber Brian ist weder begeistert noch macht er einen Glücklichen Eindruck. Nein, ganz im Gegenteil, er guckt sehr ernst und traurig. „Was ist passiert?“ Jen wird panisch, sie kann Ryan immer noch nicht sehen. „Ich muss dir etwas sagen … Jen … ich weiß nicht …“ „Ihm geht’s gut, ich hab doch gesehen, wie er sicher gelandet ist. Ihm geht’s doch gut.“ Jens Stimme ist ganz zitterig, sie weint. „Jen, Ryan ist tot. Er wurde erschossen. Wir waren in dem kleinen Supermarkt um die Ecke. Ryan wollte unbedingt noch was kaufen. Und plötzlich kamen bewaffnete Gangster rein, sie wollten nur das Geld, wurden aber nervös und schossen. Er war sofort tot. Es tut mir so leid!“ Jen sinkt zu Boden. Wie konnte das passieren? „Jetzt sollten die Sorgen doch aufhören.“