Der Weihnachtswunsch

von © Melanie Rinschede

Die weißen Flocken fallen sanft auf den schon am Boden liegenden Schnee. Es schneit. Und Levin stampft in seinen hohen Stiefeln nach Hause. In ein paar Tagen ist Weihnachten, trotzdem sieht er nicht glücklich aus. Eigentlich mag er diese Zeit besonders. Wenn der Schnee fällt, in der Dämmerung die Weihnachtslichter zu leuchten beginnen und am meisten die Vorfreude auf die Geschenke, die unter dem riesigen Tannenbaum auf ihn warten. Doch dieses Jahr wird alles anders sein. Seine Eltern haben schon mit ihm und seinen beiden älteren Geschwistern gesprochen. Seitdem der Vater seinen Arbeitsplatz verlor, kann sich die Familie vieles nicht mehr leisten. Auch kein Weihnachten. Levin blickt traurig nach unten und zeichnet mit einem Stock eine Spur vor sich in den weichen Schnee. Er hört Stimmen und schaut hoch zu einem großen Haus mit hohen Fenstern und zwei Säulen vor dem Eingang. Es ist wunderschön dieses Haus. Es gehört den Hendersons. Levin kennt ihren Sohn Jahn. Jahn geht mit Levin in dieselbe Klasse. Die Hendersons packen gerade Spielsachen und Geschenke aus ihrem Auto. Sie waren wohl einkaufen. Wahrscheinlich haben sie Weihnachtsgeschenke gekauft. Und noch so viele. Dabei ist Jahn ihr einziges Kind. Levins Eltern werden nicht so viele Geschenke kaufen können. Und das, was Levin bekommt, muss er noch mit seiner Schwester und seinem Bruder teilen. Plötzlich bekommt er ganz große Augen. Jahns Mutter trägt gerade das Geschenk ins Haus, welches Levin sich so sehr gewünscht hatte. Ein ferngesteuertes Auto. Schnell wie nie zuvor. Und dann auch noch in der Farbe, in der es Levin sich gewünscht hatte. Rot. Ein Ferrari rotes ferngesteuertes Auto, welches schnell war wie nie zuvor. Und Jahn würde es bekommen. Ein wenig Neid kommt hoch in Levin. „Wieso können wir nicht reich sein? Dann wäre alles viel schöner!“, dachte sich Levin und war sich seiner Sache ziemlich sicher.

Zuhause angekommen hilft Levins Mutter ihm aus seinen Wintersachen. Er ist immer so gemütlich warm eingepackt, wenn es draußen zu frieren beginnt. „Magst du einen heißen Kakao?“, fragt ihn seine Mutter, während sie seine Jacke aufhängt und ihm danach liebevoll übers Haar streichelt. „Ja, gerne.“, antwortet Levin, der für sein Leben gern Kakao trinkt und fügt noch schnell hinzu „Aber so heiß es geht bitte.“ Die Mutter verschwindet in die Küche und Levin geht zu seinen Geschwistern und seinem Vater ins Wohnzimmer. Sie spielen „Mensch ärgere dich nicht“. Dies ist möglich, weil sie in der Schule kurz vor Weihnachten keine Hausaufgaben mehr auf bekommen. Die Zeit nach Unterrichtsschluss können sie sofort zum Spielen nutzen. „Setz dich zu uns und spiel mit uns. Zu viert macht es mehr Spaß als zu dritt.“, fordert ihn sein Vater auf. Er rückt ihm schon den Stuhl zur Seite, doch Levin mag nicht spielen. „Mensch ärgere dich nicht“? Dabei ist ihm gerade sehr nach ärgern zumute. „Nein, ich mag nicht. Ich gehe in mein Zimmer.“ Levin dreht sich um und verlässt das Wohnzimmer in Richtung Küche, wo ihm seine Mutter den heißen Kakao schon fertig hinhält. Levin nimmt den Kakao und geht traurigen Blickes in sein Zimmer. Seine Mutter schaut ihm nachdenklich hinterher. Sie weiß genau, warum ihr Sohn ein so zerknirschtes Gesicht macht. Wie gerne würde sie ihm seine Weihnachtswünsche erfüllen. Ihn nicht spüren lassen, wie schlecht ihre Finanzen stehen. Doch ein großer Baum, ein Festmahl und die vielen Geschenke wie in den letzten Jahren sind einfach nicht drin. Vielleicht müssen sie sogar ihr Haus verkaufen. Das wollen die Eltern den Kindern aber erst nach Weihnachten sagen.
Levin sitzt nachdenklich in seinem Zimmer. Er hat seinen selbstgeschriebenen Wunschzettel in der Hand. Er braucht ihn gar nicht mehr ab zu geben. Eine kleine Träne kullert über seine Wange, landet auf dem Wunschzettel und durchnässt das Papier, so dass die Schrift verschwimmt. Er nippt an seinem Kakao. Dann legt er sich auf sein Bett und fängt laut zu schluchzten an. „Was für ein gemeines Fest an dem nur Leute Spaß haben können, die sich alle Geschenke leisten können! Doof ist das und sau gemein!“, denk er sich und schläft unter Tränen ein.
Umso näher Weihnachten rückt umso trauriger wird Levin. Jeden Tag kommt er an dem Haus der Handersons vorbei. Seitdem er Jahns Eltern die Geschenke hat auspacken sehen, bleibt Levin immer einen Augenblick am Haus stehen und stellt sich vor wie es wäre, wenn er dort wohnen würde. Wenn er die vielen Geschenke bekäme und nichts davon teilen müsste. Sie haben bestimmt einen großen Baum und alles ganz edel und fein geschmückt. Sicher gibt es auch ein leckeres Essen. Levin ist wirklich sehr neidisch auf Jahn, der alles hat und noch mehr bekommt.

Dann ist Heilig Abend. Levin und seine Geschwister hatten heute keine Schule mehr. Die Ferien haben begonnen. Der Vater hat einen Weihnachtsbaum besorgt. Keinen großen, geraden Baum wie sonst die Jahre, sondern einen kleinen, krummen mit sehr wenig Nadeln. Diesen, so sagte Levins Vater, habe er geschenkt bekommen. Es war einer der letzen Bäume und der Verkäufer hätte ihn eh nicht mehr verkaufen können. Levin und seine Geschwister helfen der Mutter schmücken. Auch die Eltern sehen traurig aus. Doch sie versuchen die Weihnachtsstimmung zu retten. Es wird gesungen, es werden Geschichten erzählt, herumgealbert und plötzlich auch gelacht. Auch Levin lacht. Abends serviert die Mutter Nudeln mit Soße. Es gab noch nie Nudeln mit Soße zu Weihnachten. Aber das findet Levin gerade gar nicht mehr so schlimm, dafür ist das Zusammensein mit seiner Familie gerade zu lustig. Dann ist die Bescherung an der Reihe. Weil Levin der jüngste ist, darf er als Erster sein Geschenk öffnen. Es ist ein selbstgestrickter Pullover. Die Mutter hat sich damit so viel Mühe gegeben. Das hat sie nur getan, weil sie Levin so lieb hat. Und so freut er sich sehr über das Geschenk. Trotzdem muss er wieder an das tolle ferngesteuerte Auto denken, welches er sich so sehr gewünscht hatte. Wenn er es doch nur einmal steuern dürfte. Nur einmal die Fernbedienung in seinen Händen halten dürfte. Es überkommt ihn wieder ein wenig Traurigkeit. Auch seine Geschwister sind nicht glücklich wie die Jahre zuvor. Auch sie hatten andere Wünsche, die an diesem Weihnachten nicht erfüllt werden konnten. „Levin, kannst du den Kakao aus der Küche holen?“, fragt seine Mutter. Er läuft los, nimmt sich in der Küche einen Stuhl und klettert auf die Ablage, um an den Schrank zu gelangen. Dabei sieht er durch das Küchenfenster Jahn. Jahn steht auf der frei gefegten Einfahrt des Nachbarn und fährt mit seinem ferngesteuerten roten Auto. Er hat tatsächlich dieses Auto bekommen. Dieses, welches sich Levin so gewünscht hatte. Wieder wird er neidisch. Doch dann, Levin sieht ein wenig genauer hin, erkennt er, dass Jahn gar nicht glücklich aussieht. Er spielt gar nicht mit Begeisterung mit dem Auto. Er spielt eher lustlos und gelangweilt. „Wie kann das sein?“, fragt sich Levin. „Wie kann man so ein Geschenk bekommen und so unglücklich aussehen? Das kann doch nicht sein.“ Dann entdeckt Levin sogar ein paar Tränen auf Jahns Gesicht. Plötzlich ist Levin nicht mehr neidisch, sondern ihm tut Jahn leid. Ihm tut der Junge leid, welcher mit diesem super Auto durch die Gegend fährt. Aber wo sind die Eltern von Jahn? Er spielt ja ganz alleine und das an Weihnachten. Levin klettert von der Ablage zurück auf den Fußboden und läuft zur Haustür. „Jahn.“, ruft er raus in die Kälte. „Jahn komm rüber zu mir.“ Jahn guckt etwas verschämt zu Levin nimmt sein Auto in die Hand und läuft los. „Sag mal, warum spielst du alleine draußen in der Kälte und das an Weihnachten?“, fragt Levin entsetzt. Darauf antwortet Jahn etwas zögerlich „Nun ja. Nach dem Essen ist Vater zurück ins Büro gefahren und Mutter hatte noch Arbeit mit nach Hause gebracht. Über die Feiertage kann sie liegengebliebenes noch erledigen sagt sie immer.“ Levin kann es nicht fassen. Eltern die an Weihnachten arbeiten und nicht mit ihrem Kind feiern, wie kann das sein? „Magst du zu uns rein kommen? Wir sitzen am Tisch zusammen und spielen.“ „Oh gerne, wenn ich darf.“ Jahn lächelt und freut sich. Levins Mutter kommt dazu und fragt was denn los sei. „Darf Jahn mit uns feiern? Seine Eltern haben keine Zeit und er hat alleine gespielt.“, fleht Levin seine Mutter an. „Aber selbstverständlich. Zieh deine warmen Sachen aus und setz dich zu uns. Magst du auch einen Kakao?“ Jahns Augen strahlen. Er setzt sich zu Levins Familie an den Tisch und spielt, lacht und freut sich mit. „Es ist wirklich sehr schön hier.“, sagt er zwischendurch.

Später am Abend bringt Levins Vater Jahn zurück nach Hause. Er bedankt sich höflich und scheint sogar ein wenig traurig zu sein, zurück in das schöne große Haus mit den Säulen am Eingang zu müssen. Zu schön war es bei Levin und seiner Familie. Aber auch für Levin war es ein sehr schöner Abend. Er durfte mit Jahns ferngesteuertem Auto fahren. Und er hat einen neuen Freund gefunden.

Ein paar Tage später klingelt bei Levin zuhause das Telefon. Sein Vater nimmt den Hörer ab. Am anderen Ende ist der Vater von Jahn, der sich nochmals dafür bedanken möchte, dass Jahn ein so schönes Fest hatte. Er höre gar nicht auf zu schwärmen wie toll es gewesen sei. Levin geht ins Wohnzimmer uns setzt sich auf die Couch. Er denkt nach. „Wieso fand Jahn es hier schön? Er hat doch erzählt, welche Geschenke er zuhause alle bekommen hat und wie bei ihm zuhause der Baum aussieht. Wie kann er es hier schöner gefunden haben?“ Levin sitzt eine Weile auf der Couch und denkt nach. Dann fällt ihm ein, wie er Jahn vorgefunden hat, allein! Man kann doch alleine kein Fest feiern auch nicht mit vielen Geschenken. Da wird es Levin bewusst. Weihnachten ist kein gemeines Fest gegenüber den Menschen die sich nicht alles leisten können, es ist ein gemeines Fest gegenüber denen, die es alleine feiern müssen. Von nun an möchte sich Levin keine teuren Geschenke mehr wünschen, sondern nur noch, Weihnachten nicht alleine feiern zu müssen.